Pressmitteilung vom 10.08.2021

900 Jahre Jüdisches Leben in Thüringen

Der berühmte Erfurter Schatz, die älteste bis zum Dach erhaltene Synagoge Europas, mittelalterliche Mikwen und Gedenktafeln: Das Erbe der jüdischen Kultur ist in den Thüringer Städten allgegenwärtig. Neben Erfurt lassen sich Spuren in vielen weiteren Städten finden: in Schmalkalden, Gera und Gotha, und von Arnstadt über Mühlhausen, Nordhausen bis Sondershausen. Mit hochkarätigen Events wie den Achava-Festspielen und dem Festival „Yiddish Summer Weimar“ als einer der weltweit wichtigsten Sommerprogramme beweist Thüringen einmal mehr die gelebte Form jüdischer Kultur, ihrer Bewahrung und Wertschätzung.

 

Schauplätze jüdischer Geschichte vom Mittelalter bis in die Neuzeit in Erfurt

Seit Jahrhunderten ist die jüdische Gemeinde mit ihren Traditionen und ihrer Kultur fest in Erfurt verankert. Die Alte Synagoge und der darin beherbergte, berühmte Erfurter Schatz samt Mikwe sind Grund genug für die Bewerbung als UNESCO-Weltkulturerbe. Historische Stadtrundgänge sind sogar in Hebräisch erhältlich.  

Schon im Mittelalter galt Erfurt als Herz des jüdischen Lebens in Thüringen. Die Stadt war eine der größten Siedlungen des Heiligen Römischen Reiches sowie wirtschaftliches und kulturelles Zentrum an der Kreuzung wichtiger Handelsstraßen. Bis heute sind zahlreiche Spuren der wichtigsten jüdischen Gemeinden des Mittelalters erlebbar. Dabei können Besucher die Alte Synagoge bestaunen, die älteste bis zum Dach erhaltene Synagoge Europas. Der älteste nachgewiesene Bauabschnitt lässt sich um 1100 datieren. In ihrem Inneren birgt sie den berühmten Erfurter Schatz. In nicht allzu großer Entfernung zur Alten Synagoge wurde eine mittelalterliche Mikwe gefunden – ein ehemaliges rituelles Tauchbad, entdeckt 2007 bei Grabungsarbeiten. Das Tauchbecken der Mikwe ist über ein Fenster in der Decke des Schutzbaus einsehbar. All diese Bauwerke sind Grund genug für die Stadt Erfurt, diese mit der Bewerbung um die Auszeichnung „UNESCO-Weltkulturerbe“ gesondert zu schützen und dieses einmalige Erbe einer breiten Zielgruppe zu präsentieren. Neben der Alten Synagoge ist auch die Kleine Synagoge ein wichtiger Baustein im Netzwerk "Jüdisches Leben Erfurt". Von 1840-1884 als Gotteshaus der jüdischen Gemeinde genutzt, ist die Synagoge heute eine multikulturelle Begegnungsstätte, die sich insbesondere der deutsch-jüdischen Verständigung verpflichtet fühlt.

Über die Erfurter Tourist Information sind Gruppenführungen „Auf den Spuren jüdischer Geschichte“ ganzjährig buchbar. Ein großes Highlight sind die Achava-Festspiele (19.09. bis 03.10.2021) mit großartigen Konzerten internationaler Künstler, Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und Gesprächsreihen.

 

Auf Spurensuche in Weimar, Gotha und Arnstadt

Seit Jahrhunderten ist die jüdische Gemeinde mit ihren Traditionen und ihrer Kultur fest in Thüringen verankert. Auch Gotha beherbergt viele Zeugnisse jüdische Geschichte: den jüdischen Friedhof, Stolpersteine, Wohn- und Gewerbegebäude jüdischer Mitbürger sowie Kultstätten jüdischen Lebens.

In Weimar lassen sich rund 700 Jahre jüdisches Leben während eines Stadtrundgangs nachvollziehen. Eine für Gruppen reservierbare Führung wurde speziell für das Themenjahr entwickelt und bietet erstmals einen solchen Überblick. Erste Spuren jüdischen Lebens gehen zurück auf das 14. Jahrhundert, in den Jahrhunderten danach existierte in Weimar jüdisches Leben zwischen Bedrängnis und Entfaltung. Der Rundgang kann in der Tourist Information Weimar gebucht werden. Auch öffentliche Rundgänge werden während der Achava-Festspiele angeboten.

Seit fast 150 Jahren hütet die Stadt Gotha ein besonderes Juwel, das allen Widrigkeiten des 20. Jahrhunderts widerstand: der jüdische Friedhof in der Eisenacher Straße. Zudem ist er Bestandteil zweier Führungen, welche die Gothaer Tourist-Information anbietet: „Jüdisches Leben in Gotha“ (03.09. und 01.10., 14 Uhr) und „Führung über den Jüdischen Hauptfriedhof“ (05.09. und 17.10., 14 Uhr). Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eröffnet, war der jüdische Friedhof noch bis ins Jahr 1942 Begräbnisstätte für die jüdische Gemeinde Gothas. Die rund 150 Grabstätten wurden während der Zeit des Nationalsozialismus geschändet, doch wie durch ein Wunder blieb der Friedhof in seiner Grundstruktur erhalten.

„Jüdische Familien aus Arnstadt und Plaue“ – so heißt die aktuelle Sonderausstellung im Schlossmuseum Arnstadt, die bis zum 14. November 2021 zu sehen ist. Sie dokumentiert das Leben von jüdischen Familien in den Städten Arnstadt und Plaue, von den ersten jüdischen Gemeinden im Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein, und wird von Ausstellungsgesprächen und Vorträgen begleitet. Gezeigt wird unter anderem eine Torarolle, die 1938 aus der brennenden Arnstädter Synagoge von einem Unbekannten gerettet wurden. Zudem findet die Premiere der Wanderausstellung „Orte der Synagogen“ in Arnstadt statt, mehrere Konzerte der Achava-Festspiele und Sonderstadtführungen zur jüdischen Geschichte.

 

Jüdisches Erbe in Gera: Innovatoren der Wirtschaft

Seit dem Mittelalter lebten Jüdinnen*Juden in Gera und spielten eine wichtige Rolle im kulturellen und wirtschaftlichen Leben der Stadt. Bekanntestes Zeugnis ist die Eröffnung des Stammhauses der späteren Warenhauskette Hertie durch die Familie Tietz im Jahr 1882. Überregionale Bekanntheit erlangte auch die Fotografin Aenne Biermann, die von 1920 bis zu ihrem Tod 1933 in Gera lebte und arbeitete.

In den 1920er Jahren war die mehr als 500 Angehörige zählende jüdische Gemeinde in Gera die zweitstärkste in Thüringen. Juden und Jüdinnen leisteten einen großen Beitrag zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Stadt. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts gründeten jüdische Unternehmer zahlreiche Geschäfte, darunter die Kaufhäuser der Familien Biermann und Jankelowitz, eine Teppich-, Leder- und Wäschefabrik. Eines der bekanntesten Unternehmen in Gera leiteten Hermann und Oskar Tietz. Ausgehend von einem kleinen Weißwaren-Geschäft schufen sie schließlich den Warenhauskonzern Hertie, der in zahlreichen großen Städten Deutschlands Filialen eröffnete. Der Warenhauskonzern Tietz wurde 1935/1936 „arisiert“, ebenso wie das Geschäftshaus des jüdischen Kaufmanns Max Biermann, das 1938 in den Besitz der Firma Braun & Co überging. Zum Bauhaustag (05.09.) zollt Gera seiner jüdischen Geschichte Tribut mit einem umfangreichen Programm: mit einer Ausstellung „Jüdisches Leben in Gera“ im Tietz-Kaufhaus inklusive Präsentationen mit Szenenclips aus jener Zeit, einer Hörstation mit Interviews von Zeitzeugen und einer Fotoausstellung der jüdischen Fotografin Aenne Biermann. Auch Führungen durch das Tietz-Kaufhaus mit Infos jüdischen Leben werden angeboten. Noch bis zum 3. März 2022 lädt das Kulturhaus Häselburg Schriftsteller*innen, Filmregisseur*innen, Journalist*innen, Historiker*innen und Musiker*innen ein, die von ihrem Alltag als Jüdinnen*Juden in Deutschland, ihrem Leben in der DDR und jüdische Musiktraditionen, über die Auswanderung nach Israel und russisch-ukrainische Feinkostgeschäfte berichten.

 

Das Jubiläumsjahr in Nordhausen und Mühlhausen, Sondershausen: Wanderausstellungen und Rundgänge auf historischen Pfaden

In der Musikstadt Sondershausen arrangiert eine neue Ausstellung zwei Themen und zwei Künstler miteinander. In den Bild- und Klangwelten werden Küstenlandschaften porträtiert sowie bewegende Bühnenmomente fotografisch dokumentiert. Im renommierten Angermuseum in Erfurt zelebriert man das beeindruckende bildhauerische Schaffen von Wieland Förster.

 „Von Erfolg und Verfolgung“ erzählt die Wanderausstellung in Nordhausen (07.10. bis 12.11.) auf dem Nikolaiplatz. In einer großformatigen skulpturalen Präsentation würdigt die Ausstellung das große Verdienst jüdischer Sportlerinnen und Sportler für die Entwicklung des modernen Sports in Deutschland und dokumentiert anhand ausgewählter Porträts deren Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus. Von 17 herausragenden Sportpersönlichkeiten wird mit überlebensgroßen Silhouetten an ihr Leben und ihre Erfolge erinnert. Die Sportler wurden während der NS-Zeit aus ihren Sportvereinen ausgeschlossen, sämtliche errungene Titel aberkannt.

Mühlhausen lädt zur Sonderführung: „Jüdisches Leben mit Besuch der Mühlhäuser Synagoge“ ein (26.09., 14 Uhr) und erinnert dabei an die lange Tradition jüdischen Lebens in der Stadt. Schon das Mühlhäuser Rechtsbuch, einer der ältesten Gesetzestexte in deutscher Sprache, dokumentierte um 1220 jüdische Einwohner in der Reichsstadt Mühlhausen. Eine Synagoge findet um 1380 schriftliche Erwähnung. Das heute zu besichtigende Gebäude entstand ab 1840, wurde am 09. November 1938 geschändet und nach 1945 der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen übergeben. Die Bemühungen zur Erhaltung wurden im November 1998 mit der Wiederweihe gekrönt. Synagoge und Gemeindehaus sind für Gottesdienste nutzbar und dienen als Begegnungsstätte mit Ausstellung und Bibliothek. Eine Voranmeldung zur Sonderführung ist über die Tourist-Information Mühlhausen erforderlich.

„Schutzjuden – Staatsbürger – Weltbürger, Juden in Sondershausen“, so titelt ein Kooperationsprojekt des Arbeitsverbunds der Schwarzburger Museen im Schlossmuseum Sondershausen. In der „Galerie im Schloss“ folgt die Ausstellung Spuren jüdischen Lebens in der ehemaligen Residenzstadt Sondershausen vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert (12.09.21 bis 16.01.22). Die wenigen überlieferten baulichen Zeugnisse – das mittelalterliche Ritualbad in der Altstadt und der jüdische Friedhof am Spatenberg – sowie die nur noch bildlich fassbare Synagoge stehen symbolisch für Phasen von Verfolgung, Akzeptanz, Emanzipation und Integration. Anhand biographischer Exkurse unternimmt die Ausstellung den Versuch, einzelne Schicksale sichtbar zu machen und Geschichte auch auf persönliche Weise zu erzählen.

 

Gegen das Vergessen: Jüdisches Leben in Schmalkalden

Schmalkaldens Geschichte beschränkt sich nicht nur auf das Gebiet der Reformation, die Stadt ist auch vom Standpunkt jüdischer Geschichte aus bedeutend. Schmalkalden beherbergte im Mittelalter zunächst nur einzelne jüdische Familien, später sogar eine der wenigen jüdischen Gemeinden in ganz Thüringen.

Die Zeugnisse jüdischen Lebens finden sich noch heute an vielen Orten im Stadtgebiet. Der 1897/98 angelegte jüdische Friedhof Eichelbach, die ehemalige jüdische Schule sowie „Steine des Gedenkens“ vor den Häusern, die an die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten jüdischen Einwohner erinnern. Im Zuge archäologischer Untersuchungen wurde 2015 eine Kellermikwe aus dem 16./17. Jahrhundert inmitten der Innenstadt gefunden. Nur unweit des Standortes der 1938 zerstörten Synagoge fand man den Gewölbekeller mit Tauchbad, der durch Grundwasser gespeist wird. Der Erhaltungszustand ist außergewöhnlich gut und daher für Besichtigungen im Rahmen von Führungen ab September zugänglich. Bei einem Spaziergang durch die historische Fachwerkstadt stoßen Besucher auf überdimensional große Wandgemälde die unter anderem an Geschichten von Holocaustüberlebenden erinnern. Gegenüber der Mikwe regt das Porträt von Magda Brown mit dem Satz: „Ich teile meine Geschichte um diese Generation an die Gefahren von Hass, Vorurteilen und Diskriminierung zu erinnern“ zum Nachdenken an. Die Stadtführung „Auf den Spuren jüdischen Lebens in Schmalkalden“ begleitet Besucher zu den bedeutendsten Schauplätzen und kann über die Tourist-Information gebucht werden.

Alte Synagoge Erfurt
© Vasiliy Dolzhansky

Ausstellung juedische Familien aus Arnstadt und Plaue

Jüdenstrasse in Gotha
© Archiv KulTourStadt

Jüdischer Friedhof Gotha
© Archiv KulTourStadt

Jüdischer Friedhof Schmalkalden

Wandgemaelde Magda Brwon Schmalkalden